Dichtung und Wahrheit

Thematisiert wird eine lyrische Dichtung von Friedrich Hölderlin, die uns als vierseitiges Folio-Fragment überliefert ist; handschriftlich mit dem Titel „Die Nymphe. Mnemosyne.“ überschrieben. Trotz erheblicher Differenzen, die diese Schriftsammlung hinsichtlich Edition und Interpretation bis in unsere Tage hinein bewirkt, ist sich die Hölderlin-Forschung allgemein aber weitestgehend darin einig, dass diese Verse letztmalig seinen Versuch ausdrücken, Altertum und Gegenwart poetologisch ins Utopische zu verklären, d.h. bevor schicksalhafte Umstände die Poesie des Dichters radikal verändern und die Produktion polyphoner Lyrik bei ihm vollständig zu verstummen beginnt.

Nach seiner Rückkehr aus Bordeaux schrieb Hölderlin an seinen langjährigen Freund Böhlendorff seine Einschätzung zum gegenwärtigen Grund des poetischen Schaffen, dass nämlich seine vaterländischen Gesänge “die Sangart überhaupt“ berühren, was „natürlich, eigentlich originell zu singen“ heißt. Dieser musikalischen Begründung seiner Dichtung nachzugehen, entspricht in der aktuellen Annäherung hier, einerseits das Textverständnis durch Stimme, Bass und Schlagholz zum Anklingen zu bringen und den Textinhalt andererseits durch digitale Visualisierungstechnik anschaulich zu machen.

Die Hölderlin-Forschung beurteilt das Fragment als Vorzeichen der geistigen Zerrüttung des Dichters und bescheinigt ihm im Folgenden den Mangel an dichterischem Vermögen, wie es zum Beispiel im Hölderlin-Handbuch tradiert wird. Folgen wir seiner biographischen Spur aber ein wenig tiefer, haben wir jedoch zu fragen, wo in der Folge seiner unergründlichen Inhaftierung der rechtlose Delinquent während seiner 3-tägigen Überstellung von Homburg nach Tübingen jedoch die beiden Nächte hat verbringen müssen? Denn diese Strecke von 215 km wäre auch mit einer Kutsche in ca. 14 Stunden zu bewältigen. Sehen wir uns die menschenverachtende Gewalt despotische Herrschaft unserer Tage an, wo zur Habhaftwerdung eines Dissidenten ein LinienFlugzeug abgefangen und umgeleitet wird oder Menschen durch geheimdienstliche Tätigkeit sogar vergiftet werden, so kommen uns auch die Blutströme im Zeitalter der Guillotine wieder in den Sinn; will sagen, dass sich solche Auswüchse von politischem Machtmissbrauch anscheinend durch die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch ziehen und keineswegs als Geschehen des Zeitgeistes im Alltag außer Acht zu lassen sind. Dass also allein das Erleiden solcher Grausamkeiten posttraumatische Belastungsstörungen verursachen kann, dürfte dem gesunden Menschenverstand eigentlich unmittelbar eingängig sein. Lassen wir diese Diagnose als Ursache für überlieferte Verhaltensauffälligkeiten Hölderlins nach seiner Entlassung aus der Klinik in Tübingen mit der Diagnose: unheilbar gelten, was sodann auch eine Unterbringung im Tübinger Turm und soziale Betreuung erforderten, so bliebe seine zu vorige Dichtung jedoch unberührt vom Verdacht einer endogenen Gemütsverstimmung. Ist der psychopathologische Deutungsansatz, wie dieser in weiten Teilen der Wissenschaft zum Verständnis von Hölderlins Werk gepflegt wird, erst einmal vom Tisch, hat eine Veröffentlichung seiner Dichtung heutzutage die Aufgabe, weder richtend oder gar heilend das vorhandene Textmaterial zu erfassen, sondern es eröffnet sich zugleich die Aussicht darauf, für solch stoffliche Komplexität bei inhaltlicher Einheit schöpferisch tätig zu werden und eine Vorstellung zu entwerfen und dahingehend zu überführen, wo einerseits nahezu das gesamte Versmaterial der Handschrift enthalten ist, die sich anderseits aber bereits dadurch von der editorischen Tradition entfernt und im Ganzen einer Fassung entspricht, die derart und wesentlich dem In-, Neben- und Übereinander-Schreiben beim ursprünglichen Schriftstück nahekommt.

Während sich die editorische Tradition im literaturwissenschaftlichen Kontext über die 3- oder 4- Stropfigkeit der Handschriften zum interpretatorischen Bemühen um die Intention des Dichter ausgiebig erschöpft, geht diese Vorstellung des Fragments von dem quasi überraschenden Fund einer 5. Strophe im bekannten Material aus, deren interpretatorische Deutung jedoch nicht weiter zur Aussprache kam; obwohl sich diese Verse ebenfalls, nahezu in Reinschrift und kaum korrigiert auf einem der handschriftlichen Folio-Bögen befinden, auf dem Hölderlin gleichfalls eine weitere Strophe notierte, die in tradierter Auslegung als Alternative zur eigentlich Anfangsstrophe entworfen und gedeutet wurde und diese – so die gängige Meinung verschiedener Editoren - sodann auch ersetzt. Im Gegenzug dazu bleiben bei der Textfassung zur DIE NYMPHE: MNEMOSYNE: aber hier nicht nur die Anfangsverse bestehen, sondern es kommen auch die unterschiedlichen Varianten derselben zu Wort.

Die wörtliche Wiederholung als sprachliches Mittel zeigt sich nicht nur im Hölderlinschen Originaltext als poetische Verfahrensweise, sondern dieses gilt ebenso als Paradigma einer Ästhetik des Performativen, wie im Prinzip auch als grundlegendes Phänomen der Musik, wahrzunehmen im Rhythmus. Dass Hölderlin mit rhythmischen Sprachelement der antiken Lyrik experimentiert hat, ist im Allgemeinen wohl bekannt, womit es auch nicht weiter verwunderlich sein dürfte, dass auch beim Fragment solche Ansätze zu finden sein werden. Diese im Text nachzuweisen, setzt einerseits hohes Sachverständnis voraus, steht andererseits aber auch nicht im künstlerischen Zentrum dieses vaterländischen Gesangs von Hölderlin. Weit mehr von Interesse ist hier die Wiederholung als schöpferisches Gestaltungsmittel durch die musikalische Anwendung elektronischer Technik, die nicht nur zur Verstärkung der Resonanz verwendet, sondern auch als Reflexion des digitalen Zeitalters verstanden wird.

Vor diesem Hintergrund haben wir uns unter dem Label >Hölderlins Musen< zusammengefunden, um das Werk Hölderlins jenseits des tradierten Narrativ von Dichtung und Wahrheit anzustimmen. Es geht hier nicht darum, die Dichotomie selbst zu verleugnen, sondern jenseits dieser Perspektive, ein Verständnis vorzustellen, das mehr vom Hölderlinschen Begriff eines „gesetzlichen Kalkül“ geprägt ist, als dass dem psychologisierenden Urteil aus zweiter Hand stattgegeben wird. Wir haben Hölderlins „vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen“ beim Wort genommen. Zum einen, um anzuzeigen, dass sein Begriff von vaterländisch nichts mit dem völkischen Gedankengut des Nationalsozialmus gemein hat. Zum anderen, um aufzuzeigen, wie mittels Stimme, Schlagholz und Bass das gesetzliche Kalkül des Rhythmus in seinem Werk zu Tage tritt und so Töne erzeugt werden, die die Bedeutung der Aussage sprachlich und sinnlich zugleich vermitteln. Als >Hölderlins Musen< bilden wir ein Team von Theaterleuten, die sich zum Teil in ihrer Ausbildung begegnet sind, dort gemeinsam >d3r tOd< nach Antonine Artaud auf die RÜ-Bühne brachten, woraus weitere Produktionszusammenhänge entstanden sind und weiter entstehen oder schon bestanden. Die Gestaltung von Stimme und Schlagholz obliegt Karsten Schönwald, Severin Roth spiel Bass und zeichnet verantwortlich für die digitale Umsetzung der Vorstellung, was SelinaNaomi Koenen das Material zu deren bildlichen Projektionen liefert.

Gewidmet ist dieser Abend dem 250. Geburtstag des Dichters Friedrich Hölderlin, den wir – wie so viele andere Feierlichkeiten des Lebens wegen geltenden Corona-Schutzverordnungen – in der Öffentlichkeit von 2020 nicht erinnern konnten. Und damit, mit der Erinnerung, haben wir zugleich auch das Thema des Abend, welches sich bereits im Titel DIE NYMPHE: MNEMOSYNE: als Göttin der Erinnerung präsentiert. Im Titel zeigt Hölderlin aber auch, dass deren Wesen zugleich mit einer Art von Sein gepaart ist, welches nicht wie Mnemosyne den Vollzug verkörpert: Denn Erinnerung setzt Vollzug von Zeit voraus (also etwas ist geschehen, an das wir uns erinneren oder anders ausgedrückt: ohne Geschehen kein Erinnern). Dem gegenüber steht das Wesen der Nymphe, die in ihrem Jungfräulich-Sein der Vergänglichkeit quasi enthoben erscheinen. Dem zu begegnen, ist kein Geschehen sondern ein Ereignis, ein Augenblick unendlicher Gegenwart. Und dennoch, die Nymphe ist auch als gegenwärtige Örtlichkeit vollzogenes Sein, gepaart mit natürlicher Kraft, geradezu mit dem Ursprung der Schöpfung vermählt. Doch diese Vermählung ist unschuldig, da für sie ohne Folgen, denn die Abstraktion hat ihren Ring geschmiedet. Damit sind derart verbundene Wesen des Seins weiterhin autark und bleiben als Seinesgleichen bestehen. Dieses ist das Verlöbnis, das die Erinnerung aus macht und in der Wiedererkennung nahezu diametral dem ersten Moment gegenübergestellt ist, dennoch sind beide Seiten ebenso unschuldig und rein wie Nymphische Wesen, da sich die Verbindung rein körperlich vollzieht.