Über FUGA

Als das Theaterstück FUGA im niederländischen Arnheim 1987 zur Uraufführung kam, brachte die Autorin damit ein Thema zur Sprache, das zu dieser Zeit als „dissoziative Identitätsstörung“ zunächst nur in der psychiatrischen Fachwelt diskutiert wurde, dann aber Mitte der 90er Jahre unter dem Stichwort „Multiple Persönlichkeitsspaltung“ einen starken Nachhall in breiter Öffentlichkeit fand. Dass Suzanne van Lohuizen die Beschäftigung mit derartigen Themen durchaus nicht fremd ist, zeigte sie schon zuvor mit ihrem nahezu zeitgleich uraufgeführten Stück Der Junge im Bus. Hier wie dort schildert Lohuizen anhand ihrer Bühnenfiguren menschliche Existenz als im Alltag haltloses Dasein.

Beim Jungen im Bus ist es die Bühnenfigur Wichard, die sich selber Richard nennt und somit vorgibt, jemand zu sein, der er nicht ist. Mit einem Bus als Behausung verfügt der Junge über keinen festen Wohnort, sozusagen, als Sinnbild stetiger Wanderschaft. In dem Stück FUGA ist es die Bühnenfigur, die hier als Lieb vorgestellt wird, die jedoch auch Margo ist, die Freddie ist, die Alessandra ist, die Cathérine ist, die vom stetigen Stimmungswandel getrieben außer Lage ist, sich selbst zu einen, d.h. sich selbst einen einzigen Namen zu geben.

Lohuizen belässt es aber nicht bei einer bloßen Zurschaustellung psychopathologischer Phänomene, sondern mittels ihrer ästhetischen Gestaltungsmittel, sei es beim Jungen durch die Vorgabe eines realen Busses als Spielort der Handlung, sei es bei FUGA, der Titel des Stücke weist bereits darauf hin, durch die nahezu musikalische Komposition eines minimalisierten Sprachgebrauchs, in beiden Fällen eröffnet sie eine Deutungsebene, die weit über das reine Vorhandensein seelischen Leidens hinausgeht.

Wie die Aufführungsgeschichte von FUGA nun aber zeigt, blieb diese hier bislang nur angedeutete Metaebene völlig unentdeckt. Im Gegenteil, manche Produktionen gingen sogar soweit, sich zur Behandlung des vordergründigen Themas „multiple Persönlichkeitsstörung“ im Probenprozess psychologisch beraten zu lassen. Andere wiederum fokussierten diese Thematik, indem alle drei Schwestern gleich gekleidet waren, so dass Brenda und Die Kleine als eine weitere Personifizierung von Lieb dargestellt wurden. Der aktuelle Inszenierungsansatz zur Theatervorstellung von FUGA versucht einen anderen Weg zu gehen. Dazu wird bereits der Titel des Stückes hinsichtlich seiner Deutungsmöglichkeiten befragt.

Als erstes fällt auf, dass die deutsche Übersetzung des niederländischen Textes den Stücktitel in der Originalsprache belässt, obwohl sich dieser mit »Fuge« im musikalischem Sinne übersetzen ließe. Zwar definiert sich diese dadurch, dass sie „wie ein musikalisches Gespräch wirkt, bei der drei oder mehr Personen ein oder zwei musikalische Themen besprechen“, womit sowohl die Figurenkonstellation wie auch die sprachliche Komposition des Stückes als Analogie dazu aufgefasst werden könnte. Dennoch hat der Übersetzer nicht diese einfache Transkription von »FUGA« geltend gemacht; was einen erneuten Hinblick nach sich zieht, um seine Entscheidung beurteilen zu können.

Nun ist »FUGA« auch wortgleich mit dem lateinischen Wort »fuga«, das mit »Flucht« oder »Weglaufen« zu übersetzen ist und in diesem Sinne eine weitere Eigenschaft der musikalischen Fuge beschreibt, da dort das Thema von einer Stimme zur anderen flieht. Nicht ungeachtet dessen, rekrutiert sich diese Beschreibung aber darüber hinaus aus dem ursprünglichen Bedeutungsinhalt von »fuga«. Im Gegensatz dazu bezeichnet >Flucht< ein tatsächliches Ereignis, hat einen realen Kontext und verweist auf einen gesellschaftlichen Zusammenhang.

FUGA ist demnach in zweifacher Hinsicht zu deuten: zum einen als Form stiftendes Prinzip, folglich als komponierte Fuge, zum anderen als beinhaltendes Element, d.h. als Flucht. Dieser Aspekt, dass der Stücktitel ein thematisches Motiv vorstellt, das zugleich auf eine ästhetische wie politische Komponente hinweist, wäre bei einer nur einfachen Übersetzung verdeckt geblieben. Da nun aber die Flucht als hintergründige Thematik des Stückes allein aus der Auseinandersetzung mit seinem Titel entwickelt wurde, ist im Weitern zu überprüfen, ob jene Auslegung willkürlich war und nur zufällig diese Bedeutung für FUGA generiert oder ob die Entdeckung der Flucht als eigentliches Thema auch mit dem Handlungsinhalt korrespondiert.

Wie bereits eingangs kurz erwähnt, suchen die drei Schwestern nach einem Weg, um den Verflechtungen der bestehenden Gemeinschaft zu entkommen. Mangelnde Liebe, einspringende Fürsorge und die Angst vor dem Alleinsein können dabei als die Motive gelten, mit denen eine jede von ihnen ihr Anliegen, aus der Gemeinschaft auszubrechen, begründet; sei es als Fluchtversuch in die fremde Außenwelt, sei es als Flucht in die Abgründe der eigenen Innenwelt. So folgt und verfällt eine jede der Schwestern der paradoxen Logik ihrer Motivation. Das Resultat ist Weltflucht.